Veröffentlichung in der Rheinpfalz, 08.11.2024
Veröffentlichung in der Rheinpfalz, 18.10.2024
Veröffentlichung in der Zeitschrift des Verbandes Bildung und Erziehung Rheinland-Pfalz, 04.05.2020
Dr. J. Chal Vinson Universität Georgia, Athens, Georgia USA*
Thomas Nast
Thomas Nast, geboren in Landau/Pfalz am 27. September 1840, gilt als der größte amerikanische politische Karikaturist. Seine genialen Zeichnungen trugen zum Sieg im Bürgerkrieg bei, vertrieben die korrupteste politische Gruppe der Stadt New York von der Macht und waren eine unerlässliche Hilfe, die Wahlen von sechs Präsidenten zu sichern. In seinen Händen wurde die politische Karikatur eine bleibende, einflussreiche und geachtete Form des Journalismus. Seine Leistung war ohne Beispiel. Kein amerikanischer Karikaturist vor Nast kam in irgendeiner Weise ihm in der Kunstfertigkeit gleich oder seinem Einfluss auf die Gesellschaft nah.
Mehr als jeder andere amerikanische Karikaturist schuf und erweiterte Nast das graphische Vokabular seiner Kunst. Aus der reichen Palette seiner Symbole werden drei heute noch verwendet: der Esel für die Demokratische Partei, der Elefant für die Republikanische Partei und der Tiger für Tammany Hall. *Nast gilt übereinstimmend als Vater der amerikanischen politischen Karikatur, da er sie zur Reife führte und ihre volle Macht demonstrierte.
Als heitere Zutat schuf dieser kompromisslose Vorkämpfer für alle Zeiten das Bild des Santa Claus aus seinen Kindheitserinnerungen an den jährlichen Besuch des dicken, bepelzten, bärtigen, alten Pelznickels in Landau mit seinen Spielzeug- und Plätzchengeschenken für alle braven Kinder. Fast alle amerikanischen Künstler sind in Nasts Fußstapfen getreten. Viele von seinen eigenen Santa-Claus-Zeichnungen werden noch häufig verwendet in Werbung, Dekoration und auf Weihnachtskarten. Die einzige Sammlung seiner Werke in Buchform zu seinen Lebzeiten war »Christmas Drawings for the Human Race« (»Weihnachtszeichnungen für die Menschenrasse«), veröffentlicht 1889. Nasts Genialität befähigte ihn so, seine eigene Freude an Weihnachten mit einer ganzen Nation über ein Jahrhundert lang zu teilen.
Diese außergewöhnliche Karriere begann, als Nast noch ziemlich jung war. Ein geborener Künstler, zeichnete er schon im Vorschulalter. 1846 wanderteer, im Alter von sechs Jahren, mit seiner Mutter nach New York aus. Sein Talent und seine Interessen waren so auffällig, dass er zu Theodor Kaufman, einem deutschen Maler historischer Szenen, in die Lehre geschickt wurde. Später studierte er an der Kunst-Akademie. Erst fünfzehnjährig trat er der Redaktion einer New Yorker Wochenzeitung, »Frank Leslie's Illustrated Newspaper«, bei. Nast ließ bald die Richtung erkennen, die sein reifes Schaffen gehen würde, in einer Zeichenserie, die einen Polizeiskandal in der Stadt aufdeckte. Später wurde er nach England geschickt, um über einen Weltmeisterschaftskampf im Boxen zu berichten. Vor seiner Rückkehr verbrachte er einige Wochen mit Garibaldis Legionen in Italien.
Als Nutznießer dieser Erfahrungen kehrte der jetzt sachkundige junge Illustrator nach New York zurück im - wie sich herausstellte - genau richtigen Augenblick. Der Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges schuf eine ungeheure Nachfrage nach Bildmaterial. Nast gelang es, eine Anstellung bei »Harper's Weekly« zu bekommen, der ersten amerikanischen Bilderzeitschrift, die Bestand und nationale Verbreitung erlangte. Die große Leserschaft, die Nast somit erreichen konnte, teilte seine Überzeugung, dass die Union erhalten werden müsste, und zollte seinen hierauf abzielenden Bildern Beifall. Unter solchen günstigen Bedingungen war Nasts Zukunft nur von seinen eigenen Fähigkeiten begrenzt. Seine früheren Zeichnungen für »Harper's« waren Darstellungen von echten und fiktiven Kampf- und Feldlagerszenen. Obwohl sie zwar eine starke Aussage zugunsten der Sache der Union erhielten, waren sie nicht als politische Karikaturen konzipiert. Sie machten Nast aber außerordentlich bekannt. Erst im Herbst 1864 allerdings zeichnete Nast eine echte politische Karikatur - eine seiner besten – und schlug den Kurs ein, dem er zum dauerhaften Ruhm folgen würde. Diese Karikatur, »Kompromiss mit dem Süden «, war ein starkes Plädoyer für die Wiederwahl des Präsidenten Abraham Lincoln und die Unterstützung seiner Politik der Fortsetzung des Krieges bis zur Niederlage der Konföderierte Staaten. Zu der Zeit erstrebten die Demokraten und eine starke politische Fraktion, bekannt als Copperheads (Kupferköpfe), Lincolns Niederlage, sofortigen Frieden und Anerkennung des Südens als eigenständige Nation. Ihre Erfolgschancen schienen so gut, dass Lincoln eine Wahlniederlage auf sich zukommen fürchtete. Es war eine düstere Zeit für die Union. Nasts Karikatur, später als Handzettel gedruckt, wurde zu Tausenden verteilt. Wähler scharten sich wieder um Lincoln; er gewann die Wahl und führte den Krieg zum erfolgreichen Abschluss. Ein verheißungsvollerer Beginn für einen jungen Karikaturisten ist kaum vorstellbar. Nast wurde als einer der Architekten des Sieges gefeiert. General Grant erklärte, dass Nast ››so viel geleistet hat, wie es einem einzelnen möglich war, um die Union zu erhalten und den Krieg zu Ende zu bringen «. Lincoln nannte Thomas Nast »den besten Werbetrommler« der Union.
Ermutigt durch seinen Erfolg als Karikaturist gab Nast bald das Illustrieren als solches auf und widmete seine ganze Zeit engagierten Kommentaren amerikanischer Politik. Wieder einmal begünstigte ihn die Zeit. Der politische Karikaturist ist am besten wenn er eine kompromisslose Attacke gegen ein allgemein erkanntes Übel richten kann. Die durch den Krieg verursachte Zwietracht hielt noch lange, nachdem der letzte Schuss gefallen war, an. Territorialer Hass schlug Wellen; die Streitfragen waren klar. Nast betrachtete die Haltung der Republikanischen Partei in diesen Fragen als vollkommen richtig. Der Standpunkt der Demokratischen Partei war der personifizierte Irrtum. Die Leser von »Harper`s« stimmten mit ihm überein; Nasts Beliebtheit wuchs. Andere hätten sich bei so viel Erfolg in so jungen Jahren auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Nicht so Thomas Nast. In den Jahren 1864 bis 1869 arbeitete er ständig weiter und verbesserte die künstlerische Technik, die den dramatischen, schneidenden, visuellen Ausdruck seiner politischen Überzeugung erhöhte.
Bei diesem Bemühen konnte er noch nicht auf einer gewachsenen amerikanischen Tradition oder Schule bauen. Über ein Jahrhundert hatte es zwar amerikanische Karikaturen gegeben, die - wie so vieles – auf Benjamin Franklin zurückgingen. Sie wurden gezeichnet, um eine Meinung über irgendeine Krise, wie z.B. Krieg, oder über eine Präsidentschaftswahl auszudrücken, erschienen jedoch nicht regelmäßig als fortlaufender Kommentar von Ereignissen.
Abgesehen von wenigen ausgezeichneten Karikaturen waren die meisten zeichnerisch primitiv. Die allgemeine Nachfrage war nicht groß genug, um künstlerische Kräfte ganztägig zu unterhalten. Es gibt wenig Informationen über Nasts künstlerische Entwicklung. Er hatte Zugang zu den Werken der englischen Schule politischer Karikaktur und wurde offensichtlich von dieser fest etablierten Tradition beeinflusst. Zu Nasts Zeiten wurde diese gut vertreten durch einige begabte Künstler, insbesondere Sir John Tenniel, der regelmäßig bei »Punch« mitwirkte, einer satirischen politischen Wochenzeitschrift, die 1841 ins Leben gerufen wurde und noch heute veröffentlicht wird. Diese Künstler waren besonders geschickt in der Darstellung erkennbarer Ähnlichkeiten der in ihren Karikaturen erscheinenden Staatsbeamten. Welche auch immer die Quelle seiner Inspiration gewesen sein mag, 1866 begann Nast mit der Porträt-Karikatur, in seinen Zeichnungen des Präsidenten Andrew Johnson. Für den Rest seiner Karriere setzte er diese Technik in meisterhafter Weise fort. Dies war ein äußerst wichtiger Schritt - der Eckstein seiner Karriere. Das Markenzeichen von Nasts Meisterwerken war sein vernichtender Angriff auf Personen wie Andrew Johnson, Boss Tweed, Horace Greeley und James G. Blaine. Ohne seine brillanten Porträts der »Opfer« wäre diese Offensive unmöglich gewesen. Die älteren amerikanischen Karikaturen überladen mit Namensschildern und Sprechblasen mit langen Reden, waren eher eine literarische
Übung als eine künstlerische. Sie besaßen keine optische Wucht, waren literarische, nicht graphische Arbeiten.
In der Anwendung der Karikatur war Nasts Kunstfertigkeit ohnegleichen. Er blieb immer bei einer unverwechselbaren Ähnlichkeit, konnte aber durch das Mittel der Karikatur ein Porträt zu einem Kommentar in sich gestalten. Tweeds ungeheure Fettleibigkeit und seine bösen eng beieinander liegenden Augen werden wohl als Personifizierung eines unehrlichen Politikers schlechthin gedient haben. Diese zunehmend wirksamen Mittel der Bildersprache wurden von Nast mit großer Energie eingesetzt, um den politischen Wahlkampf seines Helden und Freundes in der Präsidentschaftswahl 1868 zu fördern. In der Tat schrieb Grant später seinen Siegdem »Schwert Phillip Sheridans (General der Union) und dem Stift Thomas Nasts« zu.
Jetzt als völlig gereifter Meister seines Handwerks stieß Nast auf die Hauptherausforderung seiner Karriere. In New York beherrschte William Marcy Tweed jahrelang die Politik und plünderte die Schatzkammern. »Der Boss«, wie er genannt wurde, bereicherte sich und eine Clique von drei städtischen Beamten durch Schiebung und Korruption um schätzungsweise 200.000.000 Dollar in nur sieben Jahren. Seine eklatante Dieberei war zwar wohlbekannt, aber er beherrschte das politische System und die Presse so wirksam, dass Protest offensichtlich unmöglich war. Dennoch startete Nast 1869 einen furchtlosen Angriff auf den korrupten Boss und seine Bande, den er drei Jahre lang fortsetzte. Mittels genialer Karikatur verwandelte er Tweed, den ernsthaften, imposanten, vornehmen und wohltätigen Stadtvater, in einen lächerlichen, fetten Mann mit einem Geldsack als Kopf.
Als das wöchentliche Angriffsfeuer von Karikaturen Tweeds Verteidigung zu zerstören begannen, fing er an zu verzweifeln. Seine Wähler, viele davon Analphabeten, ignorierten geschriebene Angriffe, aber konnten ››diese verdammten Bilder« verstehen, klagte der Boss den streitenden Karikaturisten zum Schweigen zu bringen, indem er ihm anbot, ihn nach Europa zum Kunststudium zu schicken. Die angebotene Bestechungssumme, schließlich 500.000 Dollar, war vergebens. Nast setzte seine Angriffe fort; die Bande wurde zerschmettert. Tweed wanderte vom Rathaus ins städtische Gefängnis. Die »Nation«, eine führende kritische Zeitung, erklärte zu diesem Ereignis: »Nast hat die politische Illustration zu einem in diesem Lande nie zuvor erreichten Niveau gebracht und ihr einen Einfluss auf die Meinungsbildung gesichert, wie es noch in keinem Land auch nur annähernd geschehen ist_« Britische Zeitungen wie die »London Times« und »The Spectator« huldigten Nast als einen solchen englischen Meister wie William Hogarth und John Leech Gleichen. Dieses verschwenderische Lob war gerechtfertigt. In der Tat ist es schwer, ein Vorkommnis zu zitieren, bei dem die politische Karikatur die öffentliche Meinung zu einem so mächtigen Werkzeug der Reform bildete.
Diesem Triumph folgte seine wahrscheinlich größte Karikatur-Serie über eine Präsidentschaftswahl, den Wahlkampf 1872. Die Demokraten, einen großen Kampf vorausahnend, ließen den Karikaturisten Mat Morgan aus England kommen, im vergeblichen Versuch, Nasts Einfluss entgegenzuwirken. Nach ihrem Sieg boten die Republikaner Nast 10.000 Dollar aus Dankbarkeit für seine Dienste an, aber er lehnte ab.
Nast setzte sein großes Schaffen noch ein Jahrzehnt fort. Unterstützt von seiner Feder gewannen die Republikaner die Wahlen 1876 und 1880. Da er es nicht vermochte, 1884 sich für Blaine einzusetzen, arbeitete Nast gegen ihn, mit der Folge, dass die Republikaner ihre erste Niederlage seit 1856 einstecken mussten. Abgesehen von den Wahlen, kommentierte Nast ein breites Spektrum gesellschaftlicher Probleme, unter anderem Bürgerrechte für die Schwarzen, die Rechte der amerikanischen Indianer, uneingeschränkte Einwanderung für die Chinesen und solche Belange wie ausreichende militärische Stärke. einen gesunden Dollar im Gegensatz zur lnflation und vieles mehr.
Nasts große Wirksamkeit entsprang seinem Glauben, dass die Politik »die wichtigste gesellschaftliche Funktion - die hohe Straße in Richtung Fortschritt und Reform« sei. Seine Art war es nie, Missstände passiv zu akzeptieren. Seine ganze Karriere war eine tatkräftige Antwort auf Boss Tweeds arrogante Herausforderung zu Beginn seines Streites mit Nast: »Was wollen Sie schon unternehmen? «
Gerade die Tiefe seiner Überzeugungen und die Intensität des Angriffs, die Nast großgemacht hatten, trugen schließlich zum Rückgang seiner Beliebtheit bei. Die Öffentlichkeit verlor das Interesse an der Reform, und die Leidenschaften des Krieges kühlten ab. In den achtziger Jahren setzte eine Ära der Gleichgültigkeit ein, die Nasts Anziehungskraft teilnahmslos gegenüberstand. Seine Probleme nahmen zu durch wachsende Differenzen mit der Redaktion von ››Harper`s« nach 1877, als sein enger Freund und Mentor, Fletcher Harper, starb. Seine Zeichentechnik litt, als die Einführung fotochemischer Bilderreproduktion ihn zwang, von seinen ausdrucksstarken Bleistiftzeichnungen auf Holzblöcken zu Feder und Tusche auf Papier überzuwechseln.
1886 verließ er ››Harper`s«. Einer der führenden Journalisten der Zeit, Henry Watterson, bemerkte: »Indem er ›Harper`s Weekly‹ verließ, verlor Nast sein Forum; ›Harper`s Weekly‹ verlor mit seinem Weggang die politische Bedeutung« Nast lieferte weiterhin Karikaturen für andere Veröffentlichungen und versuchte ohne Erfolg einen langgehegten Wunsch zu erfüllen, seine eigene Zeitschrift zu besitzen. Die großen Tage wollten aber nicht wiederkehren. Nachdem er durch den Konkurs seiner Geldanleger nahezu seine gesamten Ersparnisse verloren hatte, wurde er mittellos. 1902 wurde er zum Generalkonsul in Guayaquil, Ecuador, ernannt, starb dort jedoch noch im gleichen Jahr.
Während seiner Karriere tat Nast weit mehr als nur Präsidenten zu wählen und Verbrecher zu verurteilen. Er demonstrierte seinen Journalisten-Kollegen und seinen Landsleuten überzeugend die volle Macht seines Mediums bei der Bildung öffentlicher Meinung.
Es war, als habe ein Meister der Musik auf einer großartigen Orgel gespielt für Menschen, die das Instrument zuvor nur unter den Händen blutiger Anfänger gehört hatten. Nast machte nicht nur selber große Karriere, sondern erhob zu seinen Lebzeiten die politische Karikatur in Amerika von einem zuvor kaum beachtetem Stiefkind des Journalismus zu einer unerlässlichen Beigabe praktisch aller Leitartikel. Rückschau zu halten auf Nasts Begabung käme dem Aufzählen der unersetzlichen Merkmale eines großen Karikaturisten gleich.
Ein Großteil seines Erfolges lag in der Fähigkeit, schwierige Themen leichtverständlich darzustellen. Der Karikaturist bekommt ja nur eine Gelegenheit, seinen Leser zu beeindrucken. Wenn die Bedeutung nicht auf Anhieb klar ist, werden nur wenige lang genug verweilen. um sie zu entschlüsseln. Indem er Ereignisse verfeinerte und verdichtete, reduzierte Nast sie bis auf ihren lächerlichen Kern.
Eine weitere Begabung war seine kompromisslose und unbeirrbare Darstellung der Wahrheit, wie er sie sah. Jede Präsidentschaftswahl war weniger eine Zeit für nationale Debatten als die letzte Runde im zeitlosen Kampf zwischen Recht und Unrecht, Weisheit und Irrtum. Innerhalb der vier Ecken seines Blattes war Schuld immer klar umrissen und Verantwortung einer leicht erkennbaren bekannten Persönlichkeit angehängt. Eine Kanone statt einer Pistole war Nasts
gewöhnliche Waffe. Sein bestes Schaffen trug den Stempel ». . . eines starken Ausdrucks moralischer Überzeugung . .. eines flammenden Sinnes für Gerechtigkeit.«
»Eine Karikatur« bemerkte Adolph Ochs, Gründer der »New York Times«, »kann nicht ›andererseits‹ sagen.« Dies war kein Hindernis für Nast. Mit seinem starken moralischen Eifer übermittelte er seinen Lesern immer die Wahrheit oder zumindest eine Seite der Wahrheit.
Obwohl seine Zeichnungen ein ausgeprägtes Talent für satirischen Humor verraten und oft eine leichte Hand im Umgang mit einem gewichtigen Thema zeigen, verwendete Nast diese Begabung höchst selten zur bloßen Unterhaltung. Sein Ziel war es, zu unterrichten und zu bekehren. In der Hitze einer Wahl oder eines Reformkampfes, wie der gegen Tweed, war Nast tatkräftig, unabhängig, fanatisch, einseitig, unnachgiebig und sogar kleinlich.
Trotz alledem konnte er »die Wahrheit lachend erzählen«. Seine politischen Predigten waren fast immer unterhaltsam und lebhaft in ihrer schonungslosen Anwendung von Spott, Verachtung, Hohn und satirischem Witz. Hierin lag eine seiner größten Stärken. Trotz ihrer Heftigkeit ist die Satire eine zarte Kunst. Wenn sie nicht hervorragend ausgeführt ist, wird sie unwirksam, absurd oder sogar abstoßend. Kraft der glühenden Kreativität seiner moralischen Überzeugung verwandelte Nast die Karikatur von bloßer Illustration oder milder humorvoller Beobachtung menschlicher Schwächen in eine Waffe unvergleichlicher Unmittelbarkeit und unwiderstehlicher Kraft. Er hatte das Glück, die Karikatur in den Journalismus zu integrieren, just zu der Zeit, als sich dieser in den Vereinigten Staaten gewaltig ausbreitete. Nasts Karikaturen förderten dieses Wachstum und, umgekehrt, ohne jenes Wachstum wäre sein Genius vielleicht nie aus der Verborgenheit hervorgetreten.
Der augenfälligste Einfluss, den Nast auf seinen Berufsstand ausübte, war die Gewandtheit, mit der er durch die Erfindung und Verwendung von Symbolen ein wahres Alphabet der Kunst schuf. Diese Symbole verliehen abstrakten Ideen eine konkrete Form, sodass seine Karikaturen »gelesen« werden konnten. Wie schon erwähnt, sind Nasts Elefant, Esel und Tiger beständiger Teil der amerikanischen politischen Szene. Sein Santa Claus ist das Symbol für Weihnachten. Diese Symbole leben weiter, wie Nast sie schuf, aber sie sind nur die bekanntesten Mitglieder einer großen Familie. Die Gestalt Uncle Sams als Verkörperung der Nation übernahm Nast von früheren Künstlern, aber er verbesserte ihre Arbeit und reichte seine Fassung an seine Nachfolger weiter. Andere seiner Symbole, z.B. Inflation in der Gestalt einer formlosen Stoffpuppe und der Henkelmann, stellvertretend für den Arbeiter, waren zu Nasts Zeit beliebt. Als die Stoffpuppe und der Henkelmann aufhörten, Bestandteile des täglichen Lebens zu sein, verloren diese Symbole an Bedeutung. Weitere Beispiele seiner breiten Palette waren Zeichnungen von Außenminister Hamilton Fish als Fisch, Tweed als Geier und Senator Roscoe Conklin als verlorenes Schaf. All diese dienten ihrem Zweck oder regten die Phantasie späterer Karikaturisten an, ihre eigenen Symbole zu erfinden. Noch wichtiger als die Symbole selber war Nasts Bestehen auf der optischen Kraft seiner Bilder.
Eine kurze Überschrift genügte, um die Bedeutung klarzumachen, und in vielen Fällen war sie sogar überflüssig. Die Kraft seiner Bilder offenbarte sich in der Darstellung des Tammany Tigers beim Angriff auf eine hilflose Republik oder des Kongressabgeordneten Karl Schurz im Mülleimer. Bürgermeister Oakley Hall von der Tweed-Bande wurde so häufig mit seinem auffälligem Zwicker gezeichnet, dass schließlich die Brille allein genügte, ihn darzustellen. In Nasts Händen lebte eine Karikatur aus den ihr inne-wohnenden optischen Eigenschaften und offenbarte ihren eigenen Geist.
Nasts Fähigkeiten wurden abgerundet durch seinen unerschöpflichen Ideenfluss. Ein großer zeitgenössischer Karikaturist, Bill Mauldin, sagt über seine Kunst: »Worauf es ankommt, ist das Denken ... es gibt eine Methode, aus einer schwachen Idee eine gute Karikatur zu machen.« So groß diese Begabungen auch waren, hätte ihr Einfluss doch darauf beschränkt bleiben können, Werke eines ungewöhnlichen, aber sterblichen Genies zu sein, bestimmt dazu, mit ihrem Urheber zu sterben. Bei Nasts Werk war dies nicht der Fall. Heute gilt er nicht nur als größter amerikanischer Karikaturist, sondern auch als Vater der amerikanischen Karikatur, als Stammvater einer kräftigen Sippe von Nachkommen.
Wenige - wenn überhaupt - seiner künstlerischen »Söhne« sind ihrem Erzeuger gleichgekommen, aber alle haben seinen Stempel getragen. Sie verwenden noch dasselbe Format und dieselben Symbole. Die Einflussreichsten von ihnen verleihen ihrer Kunst die aufrichtige moralische Intensität ihres Meisters. Heutzutage ist die Erinnerung an Nast so frisch wie die Leitartikel-Karikatur in der Morgenzeitung. Sein Bild von Santa Claus kehrt alljährlich wieder, um jedes Weihnachtsfest aufzuheitern. Mehr als ein Jahrhundert nach seiner Geburt kann die Nation, die Nast nährte, sehr stolz sein - nicht allein auf seine eigenen großen Leistungen, sondern auch auf die Inspiration, die er den zahllosen sein Vermächtnis lebendig haltenden Nachfolgern gab.
Nasts Ruhm ist über den Ozean zu seiner Heimat zurückgekehrt. Dort ehrt eine Thomas-Nast-Stiftung sein Andenken mit einem alle zwei Jahre verliehenen Preis für den besten deutschen und den besten amerikanischen Karikaturisten. Kürzlich ist ein Buch über
seine Karriere in deutscher Sprache erschienen: »Thomas Nast: Ein Landauer, der amerikanische Geschichte zeichnete und machte«. Pläne sind im Gange, ein Museum im Geburtsort zu eröffnen.
Thomas Nast war eins der vielen unbezahlbaren Geschenke der alten Welt an die neue. Sein Andenken wird überall bewahrt werden, solange Menschen angeregt werden können, ihre Begabung für die Schaffung einer moralisch besseren Welteinzusetzen
Dr. J. Chal Vinson
Universität Georgia, Athens, Georgia USA
*Die Veröffentlichung aus dem Buch "Personen und Wirkungen" 1979 Universitätsdruckerei Dr. Hanns Krach erfolgt mit Genehmigung des Verlags Hermann Schmidt / Mainz.
Quelle: "Personen und Wirkungen, Biographische Essays" herausgegeben von der Landesbank Rheinland-Pfalz-Girozentrale Mainz. Verlag Dr. Hanns Krach, Inhaber Hermann Schmidt, Mainz. Erste Auflage 1979 ISBN 3-87439-065-9..
Gerhard Mester, Thomas-Nast-Preis 1992
»lch habe Thomas , leider nicht persönlich kennen gelernt. Ich hätte mich gern in seinen Dienst gestellt. Und von ihm gelernt.
Vielleicht hätte ich von ihm erfahren können, wie man es anstellt, als Karikaturist Spuren zu hinterlassen, was eine Zeichnung braucht, damit sie wirklich etwas bewegt.
Es wird oft behauptet, Karikaturisten seien gefürchtete Kritiker der Machtinhaber, unbeugsame Robin Hoods im Blätterwald. Wir sind es nicht.
Vielleicht waren wir es einmal. Als Lucas Cranach zu Zeiten der Bauernkriege, als Honore Daumier im Kampf für bürgerliche Freiheit in Frankreich, oder als Thomas Nast, der seinen Intimfeind 'Boss' Tweed gehörig ins Schwitzen brachte.
Heute sammeln die Mächtigen eher die Blätter, die sie verspotten, als dass sie sie fürchten.
Sind wir Zeichner zu brav geworden? Vielleicht. Fehlt den Chefredaktionen der Mut, parteiische Karikaturen zu veröffentlichen? Mag sein. Vor allem aber ist die Öffentlichkeit durch Kabel, Satellit und Multimedia so bildersatt, dass auch die denkbar schärfste und treffendste Karikatur kaum mehr eine Reaktion auszulösen vermag.
Ich nehme an, auch der große alte Thomas Nast, lebte er in unseren Tagen, müsste diesem Umstand Tribut zollen. Und er könnte mir nicht erklären, wie man zeichnen muss, um etwas zu bewegen.
Das ist traurig. Und dennoch zeichnen wir Heutigen weiter unsere Karikaturen. Weil wir erstens Geld verdienen müssen. Weil wir zweitens so eitel sind, dass wir unsere Zeichnungen gerne gedruckt sehen. Weil uns drittens das Zeichnen Freude macht. Und viertens manchmal auch, weil etwas unbedingt heraus will, was uns bedrückt oder ärgert, auch wenn wir es mit dem Zeichenstift nicht zu ändern vermögen.